WHKT-REPORT Ausgabe 11/2020

Vorwort



Liebe Leserinnen und Leser,

die Pandemie wird uns leider noch länger begleiten. Diese große, nötige Kraftanstrengung ist noch nicht vorbei. Die Kranken, die besonders Gefährdeten, die Einsamen und auch diejenigen, die ihren Beruf – auch im Handwerk – derzeit nicht oder nur eingeschränkt ausüben dürfen, brauchen unser aller Hilfe und Unterstützung.

Bei allen Sorgen, gibt es auch Zeichen der Hoffnung und Grund für Optimismus. Die deutsche Wirtschaft erweist sich insgesamt immer noch als robust, trotz der im Frühjahr prognostizierten Einbrüche. Das ist zunächst einmal gut für viele Arbeitsplätze und die nötige Finanzierung aller Krisenmaßnahmen des Staates.

Das Handwerk erweist sich darüber hinaus in dieser Krise insgesamt als besonderer Stabilitätsanker. Im Vergleich zu anderen Wirtschaftsbereichen steht es in der Gesamtschau immer noch gut da. Das ist ein starkes Signal gerade für junge Menschen, die heute ihre berufliche Zukunft planen.

Völlig klar ist trotzdem, dass es auch im Handwerk viele Betriebe gibt, die unter dem Teil-Lockdown leiden. Für sie setzen wir uns derzeit besonders ein. Die Krisenhilfen müssen diese Betriebe jetzt schnell erreichen. Erfolgreich konnte sich die Handwerksorganisation dafür einsetzen, dass nun auch Bäckereien und Konditoreien mit angeschlossenem Café-Betrieb die sog. November-Hilfe in Anspruch nehmen können.

Auch wenn die Pandemie Deutschland in diesem Winter fest im Griff hat, ist es jetzt wichtig, die Zukunft in den Blick zu nehmen. Jetzt schon müssen wir im Handwerk das kommende Ausbildungsjahr planen. Die sich abzeichnende Corona-Lücke bei den neu abgeschlossen Ausbildungsverträgen darf sich in 2021 nicht wiederholen. Wir werden uns im Handwerk darauf vorbereiten und brauchen vor allem Unterstützung in den Schulen.

Der Wert der beruflichen Bildung im Handwerk wird gerade in dieser Krise deutlich. Das Handwerk hat für junge Menschen – egal welcher Herkunft – ein Aufstiegsversprechen parat. Damit leistet es einen entscheidenden Beitrag zum Zusammenhalt unserer Gesellschaft. Wir arbeiten daran, dass Politik und Gesellschaft das mehr und mehr erkennen.

Bitte bleiben Sie gesund.

Mit freundlichem Gruß

Ihr

Matthias Heidmeier
Hauptgeschäftsführer
 

Neu erschienen:

Herbstkonjunkturbarometer 2020: Auf das Handwerk ist in der Krise insgesamt Verlass

Die Corona-Krise hat das Handwerk seit März 2020 auf sehr unterschiedliche Weise getroffen – mit starken Einschränkungen und Belastungen bei körpernahen Dienstleistungen wie Friseuren und Kosmetikern auf der einen Seite und einer bemerkenswerten Robustheit bei anderen Betrieben, zum Beispiel im Ausbaugewerbe, auf der anderen Seite. So bestätigt das aktuell erschienene Herbstkonjunkturbarometer 2020 vor allem eines: Auf das Handwerk ist in dieser Krise insgesamt Verlass.

Das Handwerk steht nicht umsonst für eine im Vergleich zu anderen Wirtschaftsbereichen hohe Beschäftigungssicherheit – auch das zeigt die Umfrage. Zufall ist das nicht, denn die vielfach familiengeführten Unternehmen sind sich ihrer sozialen Verantwortung bewusst. Dennoch, so zeigt die Umfrage, wird der derzeitige zweite Lockdown auch am Handwerk nicht spurlos vorbeigehen. Er wird vielfach wiederum jene Betriebe belasten, die schon unter dem ersten Lockdown gelitten haben. 

Die aktuelle Ausgabe des Herbstkonjunkturbarometers mit allen Ergebnissen der Umfrage bei 5.823 Betrieben steht als Download unter www.whkt.de/konjunkturbarometer/ zur Verfügung.

Aktuelles aus dem Schulministerium:

Corona und der duale Partner Berufsschule

Teile der Wirtschaft machen sich erhebliche Sorgen, dass Auszubildende nicht an den Prüfungen am Ende ihrer Ausbildung teilnehmen können, weil sie möglicherweise vorher in Quarantäne geschickt werden. Üblicherweise verlängert sich dann die Ausbildung bis zum nächsten Prüfungstermin, in der Regel um ein halbes Jahr, sofern nicht zwischenzeitlich andere Prüfungstermine ermöglicht werden. Um das Risiko, in Quarantäne geschickt zu werden, zu verringern, hat das Schulministerium mit einem Runderlass vom 03.11.2020 den Schulen die Handlungsoptionen gegeben, den Unterricht zwei Wochen vor den Prüfungen durch Verlagerung in andere Wochen ausfallen zu lassen. 

Die Berufskollegs haben ebenfalls, wie die allgemein bildenden Schulen im Land, die Information erhalten, dass am 21. sowie 22. Dezember kein Unterricht erteilt wird und Auszubildende, die üblicherweise an diesen Wochentagen die Berufsschule besuchen, im Betrieb bleiben sollen, da die Schulen geschlossen bleiben. Die Berufsschulen sind vom Ministerium gebeten worden, alle Betroffenen Ausbildungsbetriebe zu informieren. 

NRW-Handwerksrat:

Beschlüsse zur wirtschaftlichen Betätigung der Kommunen und zur Digitalisierung

Am 20.11.2020 hat der NRW-Handwerksrat als oberstes Beschlussgremium von Handwerk.NRW zwei Beschlüsse verabschiedet. Im Beschluss zur wirtschaftlichen Betätigung der Kommunen fordert der Handwerksrat klare Grenzen der Betätigung, mehr Transparenz und eine stärkere Aufsicht. Der Beschluss zum Thema Digitalisierung befasst sich u.a. mit dem erforderlichen Ausbau der Infrastruktur und der Digitalisierung von Verwaltungsabläufen.

Die Beschlüsse sind abrufbar unter Beschluss_Handwerksrat_wirtschaftliche_Betaetigung.pdf | Beschluss_NRWHandwerksrat_Digitalisierung.pdf.

Beharrlichkeit zahlt sich aus:

Europäische Kommission zieht Vorschlag zur Dienstleistungskarte zurück

Am 19. Oktober 2020 hat die Europäische Kommission ihr Arbeitsprogramm für das Jahr 2021 vorgelegt. Weit hinten, in Anhang IV des Arbeitsprogramms findet sich eine für das Handwerk positive Überraschung. Unter den Gesetzgebungsvorschlägen, die die Europäische Kommission zurück zu nehmen beabsichtigt, weil sie entweder überholt sind oder keine Einigung in Sicht ist, befindet sich die europäische Dienstleistungskarte. Das Vorhaben lag seit dem Frühjahr 2018 auf Eis, nachdem das Europäische Parlament die Vorschläge einer Richtlinie und einer Verordnung zurückgewiesen hatte.

Der Vorschlag zur Einführung einer europäischen Dienstleistungskarte war Bestandteil des am 10. Januar 2017 veröffentlichten Dienstleistungspakets. Ziel der Karte sollte es sein, Dienstleistungserbringern und Niederlassungswilligen zu erleichtern, in einem anderen EU-Mitgliedstaat tätig zu werden. Nach Durchsicht der Kommissionsvorschläge war der Westdeutsche Handwerkskammertag (WHKT) davon überzeugt, dass die Dienstleistungskarte schwerwiegende Konstruktionsfehler hat, so dass sie den beschworenen Mehrwert für Unternehmen nicht würde erbringen können. Im Gegenteil: Der WHKT befürchtete, dass Verfahren erheblich bürokratischer würden, zum Teil absehbar langwieriger samt schwerwiegender prozessualer Fallstricke. Selbst als zusätzliches Verfahren wäre das Dienstleistungskarten-Verfahren ungeeignet gewesen.

Zu den schwerwiegenden Konstruktionsfehlern gehörte die Abwicklung über zentrale nationale Koordinierungsstellen. Handwerksbetriebe führen Aufträge typischerweise mit geringem zeitlichen Vorlauf durch, das heißt, zwischen Auftrag und Leistung liegen üblicherweise Tage, nicht Wochen. Die Ausstellung der Dienstleistungskarte hätte jedoch voraussichtlich 2–4 Wochen gedauert, denn der Kommissionsvorschlag sah vor, dass der Antrag online an die zentrale deutsche Koordinierungsstelle übermittelt würde, die ihrerseits – mangels eigener Datenhoheit – Informationen bei der zuständigen Stelle einholen muss (also zur rechtmäßigen Niederlassung z.B. bei der Handwerkskammer), um den Antrag nach Prüfung (Frist: 2 Wochen) an die Koordinierungsbehörde des Ziellandes weiterzuleiten, die wiederum 2 Wochen Zeit gehabt hätte, um Einwände zu formulieren. Statt Prozesse zu beschleunigen, hätte die Zentralisierung der Entscheidungsprozesse flexible, unbürokratische Lösungen behindert.

 

IQ Netzwerk NRW:

Abstimmungen über Anpassungsqualifizierungen in der Pflege

Der WHKT koordiniert im Förderprogramm IQ das Netzwerk in NRW. Zur Realisierung von Anpassungslehrgängen für ausländische Pflegekräfte wurden zu Beginn der aktuellen IQ Förderphase (2019–2022) fünf staatlich anerkannte Pflegefachschulen in NRW per Interessenbekundungsverfahren an folgenden Standorten seitens der Landeskoordinierung identifiziert: Dortmund, Köln, Mönchengladbach, Münster, Wuppertal.

Pflegekräfte, die im Ausland eine formale Qualifikation erworben haben, können, nachdem sie ein Anerkennungsverfahren beim Landesprüfungsamt durchlaufen haben, an den genannten Standorten einen IQ Anpassungslehrgang absolvieren. Im Anschluss erhalten sie ihre berufliche Gleichwertigkeit und beantragen die Erlaubnis zur Berufsausübung. Jährlich erhalten so ca. 150 bis 200 ausländische Pflegekräfte ihre Berufszulassung und stehen als Fachkräfte zur Verfügung. Eine Anzahl, die längst nicht ausreicht, zumal die bereits existierende große Lücke in der Pflege mit steigender Anzahl an pflegebedürftigen Menschen allein aufgrund demografischer Entwicklungen weiter stark zunimmt.

Um zu gewährleisten, dass die inhaltlichen und formalen Voraussetzungen in den IQ Anpassungslehrgängen erfüllt sind, findet ein regelmäßiger Austausch zwischen dem Landesprüfungsamt, den Vertretungen der beteiligten Fachschulen, dem Gesundheitsministerium NRW und der IQ Landeskoordinierung sowie weiteren Akteuren beim WHKT statt. Corona-bedingt handelt es sich in 2020 vor allem um digitale Treffen.

Aktuell besteht eine große Herausforderung darin, das zu Beginn 2020 in Kraft getretene neue Pflegeberufegesetz in den IQ Anpassungslehrgängen für ausländische Pflegekräfte zu berücksichtigen. Dies ist notwendig, da zukünftig (voraussichtlich ab 2023) die Bescheide zur beruflichen Anerkennung ausländischer Pflegekräfte auf Basis des neuen Gesetzes erlassen werden. Das neue Gesetz sieht eine generalistische Ausbildung mit dem Abschluss Pflegefachfrau/Pflegefachmann vor. Es werden folglich Kompetenzen vermittelt, die für die Pflege von Menschen aller Altersstufen und aller Versorgungsbereiche benötigt werden. Die bisherige Spezialisierung nach Kinder- und Altenpflege sowie der herkömmlichen Pflege in verschiedene Ausbildungsgänge entfällt damit.

Info: Laut Institut der deutschen Wirtschaft in Köln könnten in Deutschland für die Sicherung der stationären Versorgung bis 2035 über 300.000 Pflegekräfte fehlen. Für NRW hieße dies, ein Mangel von knapp 65.000 Fachkräfte in den nächsten 15 Jahren. Jährlich wären demnach über 4.200 Fachkräfte in der Pflege zusätzlich in NRW zu qualifizieren, um dem Bedarf zu entsprechen.

Der Aufgabe, ausländische Fachkräfte für das deutsche Gesundheitssystem zu gewinnen, nimmt sich beispielsweise die Zentrale Auslands- und Fachvermittlung der BA an sowie das Bundesgesundheitsministerium über die Etablierung der Deutschen Fachkräfteagentur für Gesundheits- und Pflegeberufe (DeFa). Um die Hürden der Einreise aus Drittstaaten und Beschäftigung als Fachkraft abzubauen, ist im März 2020 das Fachkräfteeinwanderungsgesetz (FEG) in Kraft getreten.

Informationen und Kontakt: www.iq-netzwerk-nrw.de

Das Förderprogramm »Integration durch Qualifizierung (IQ)« zielt auf die nachhaltige Verbesserung der Arbeitsmarktintegration von Erwachsenen mit Migrationshintergrund ab. Das Programm wird durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) und den Europäischen Sozialfonds (ESF) gefördert. Partner in der Umsetzung sind das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und die Bundesagentur für Arbeit (BA).

Projekt NetQA:

Sonderfonds des Netzwerkes Qualifikationsanalyse mit neuem Verfahren – Förderung auch in der Corona-Zeit

Die Qualifikationsanalyse (QA) ist eine wichtige Ausnahmeregelung im Anerkennungsverfahren. Das zeigt nicht nur die anhaltende Nachfrage nach dem Sonderfonds. Für qualifizierte Fachkräfte ohne ausreichende schriftliche Belege aus dem Ausland ist die Qualifikationsanalyse die Chance auf eine Gleichwertigkeitsfeststellung mit einem deutschen Referenzberuf – und damit perspektivisch auf die gleichwertige Teilnahme am Arbeitsmarkt.

Das Netzwerk Qualifikationsanalyse (NetQA) schafft ein regional verankertes Netzwerk zur Durchführung von Qualifikationsanalysen für zuständige Stellen auf Bundesebene. Der Sonderfonds Qualifikationsanalysen, der über das Projekt NetQA angeboten wird, wird über das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) finanziert und übernimmt die Kosten für die Qualifikationsanalysen, wenn die Antragstellerin/der Antragsteller diese nicht selbst aufbringen können und keine Förderung durch die Arbeitsverwaltung oder Dritte erhalten. Zudem darf das Fehlen der Dokumente nicht selbst verschuldet sein. Auch wenn insbesondere im Corona-Frühling und -Sommer weniger Qualifikationsanalysen stattfinden konnten als vergleichsweise im letzten Jahr, hat der Sonderfonds in 2020 mehr als zwei Dutzend Antragsteller/innen unterstützt. Insgesamt wurden damit von 2015 bis heute 174 Qualifikationsanalysen durch den Sonderfonds gefördert.

Neuer Ablauf seit Sommer
Seit dem 15. Juni 2020 gibt es einen neuen Ablauf zur Beantragung des Sonderfonds. Bundesweit können zuständige Stellen die Fördermittel des Sonderfonds für förderwürdige Antragstellende beim Westdeutschen Handwerkskammertag (WHKT) beantragen. Nach einer Vorprüfung der Förderanzeige seitens des WHKT geht der Vorgang zur finalen Prüfung an das Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB). Die Bewilligung und Auszahlung der Fördergelder erfolgen über das BIBB. Für Qualifikationsanalysen in der Zuständigkeit der IHK FOSA erfolgt die Beantragung der Förderung durch die IHK FOSA. Das BMBF-geförderte Verbundprojekt NetQA wird fachlich über den WHKT gesteuert. Die Gesamtkoordination erfolgt über das BIBB.

Informationen zum Projekt »NetQA« finden Sie unter www.whkt.de/netqa.

Auf europäischer Ebene:

ValiKom Transfer bei der Europäischen Woche der Berufsbildung

Im November wurde das Validierungsverfahren aus dem Projekt ValiKom Transfer vom Westdeutschen Handwerkskammertag (WHKT) während der »European Vocational Skills Week« auf europäischer Ebene vorgestellt. Die »European Vocational Skills Week« ist eine jährliche Veranstaltung, bei der lokale, regionale oder nationale Organisationen neue Entwicklungen aus der beruflichen Aus- und Weiterbildung präsentieren. Die fünfte Europäische Woche der Berufsbildung wurde von der Europäischen Kommission in enger Zusammenarbeit mit der deutschen Rats-Präsidentschaft der Europäischen Union und dem Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) organisiert und hat aufgrund der Corona-Pandemie zum ersten Mal in rein digitaler Form stattgefunden.

In einer Reihe von virtuellen Sessions und Workshops wurden im Zeitraum vom 9. bis zum 13. November 2020 Themen rund um die berufliche Bildung beleuchtet. Auf Anfrage des BMBF hat Projektleiterin Tina Rapp ValiKom Transfer, das als Referenzprojekt zur Validierung beruflicher Kompetenzen verstanden werden kann, im Rahmen der Themen-Konferenz »Validierung von nicht formalem und informellem Lernen« als deutsche Perspektive vorgestellt. In einem 15-minütigen Vortrag erläuterte Frau Rapp, wie das Verfahren funktioniert, welche Funktionen es im Kontext der beruflichen Weiterbildung auf dem deutschen Arbeitsmarkt übernehmen kann und an wen sich das Projekt richtet.

Neben Tina Rapp vom WHKT haben drei weitere Referentinnen aus Frankreich (Anne Tangy), Portugal (Maria João Alves) und Finnland (Minna Bálint) die jeweilige Validierungsstrategie ihrer Länder präsentiert. Moderiert wurde die Videokonferenz von Anusca Ferrari, politische Beauftragte der Europäischen Kommission für soziale Angelegenheiten und Ernesto Villalba Garcia vom Europäischen Zentrum für die Förderung der Berufsbildung, einer Agentur der Europäischen Union und das Referenzzentrum der EU für Fragen der Berufsbildung.

Die Zuschauer waren während der gesamten Konferenz interaktiv miteingebunden, konnten sich an Umfragen beteiligen und Fragen stellen. Auch eine Podiumsdiskussion zu Herausforderungen bei der Implementierung von Validierungsverfahren sowie dem Nutzen von Validierung insbesondere bezüglich der Erhöhung der Beschäftigungsfähigkeit war Teil des zweistündigen Themenblocks.

Die komplette Session wurde aufgezeichnet und kann angeschaut werden unter: https://beyond-events.eu/index.php?eventid=23&roomid=93

Das Projekt ValiKom Transfer wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert. Weitere Informationen gibt es unter www.validierungsverfahren.de.

Berufsbildungspartnerschaftsprojekt:

Das Tischlerhandwerk in der Côte d’Ivoire

Seit April 2019 führt der Westdeutsche Handwerkskammertag gemeinsam mit der ivorischen Handwerkskammer (Chambre Nationale des Métiers de Côte d’Ivoire, CNMCI) ein Berufsbildungspartnerschaftsprojekt in der Côte d’Ivoire (Elfenbeinküste) durch. Das vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung geförderte Projekt hat zum Ziel, Tischlerinnen und Tischler in der Region Man durch die Bereitstellung einer dualen Berufsausbildung zu unterstützen, sowie die Wahrnehmung des Handwerks in der Elfenbeinküste zu verbessern. 

Doch welche Bedeutung hat das Tischlerhandwerk im Land und wie funktioniert dort die Ausbildung? Dieser Frage ging im Spätsommer dieses Jahres die Langzeitexpertin des WHKT, Elke Müller, gemeinsam mit ihren Kollegen von der CNMCI nach. Im Rahmen einer Studienreise verschaffte sie sich einen Überblick über den Ausrüstungs- und Ausbildungsstand der staatlich finanzierten Bildungszentren sowie einzelner Tischlereien.

Ihre Erkenntnis ist, dass das Tischlerhandwerk in der Elfenbeinküste im Wesentlichen durch drei Merkmale charakterisiert wird:

  1. Es werden viele Möbel aus Massivholz hergestellt;
  2. Das Holz hat sehr unterschiedliche Qualitäten. In vielen Tischlereien wird nasses Holz verwendet – entsprechend leidet oft die Qualität der Erzeugnisse;
  3. Die qualitativ interessanten Hölzer werden an die großen Sägewerke geliefert und dort für den Export weiterverarbeitet. Dieser erfolgt hauptsächlich über den Hafen in San Pedro.

Nur ein kleiner Teil der wertvollen Hölzer bleibt im Land. Die Tischlereien und Ausbildungszentren im ganzen Land haben daher Schwierigkeiten, brauchbares Material für ihre Arbeit oder Ausbildung zu finden.

Die Ausbildung im ivorischen Handwerk erfolgt in der Regel über zwei Wege: Entweder durch eine dreijährige Lehre in einem Bildungszentrum oder durch eine rein betriebliche Ausbildung.

Die Lehre im Zentrum ist schulisch organisiert. Dementsprechend liegt der Schwerpunkt in der Theorie. Es gibt lediglich 17 staatliche Bildungszentren im ganzen Land, die Tischlerinnen und Tischler ausbilden. Die Ausstattung dieser Zentren ist meist veraltet; es fehlt ebenso nicht nur an geeignetem Holz, sondern auch an Handwerkszeug und qualifizierten Ausbilderinnen und Ausbildern.

Bei der betrieblichen Ausbildung lernt der oder die Auszubildende ausschließlich in der Praxis und auf informellem Wege. Auf dem Land werden einfache Produkte nachgefragt, die oft ohne Holzverbindungen zusammengenagelt werden. Ästhetik und eine qualitativ hochwertige Bearbeitung spielen eine untergeordnete Rolle. Die Ausstattung der Werkstätten ist sehr schlicht, eine strukturierte Lehre findet nicht statt. Die Dauer einer solchen Ausbildung ist nicht geregelt und beträgt bis zu 7 Jahre. Es gibt keinen Anspruch auf eine Ausbildungsvergütung. Die meisten Jugendlichen, die in Betrieben ihre Ausbildung machen, haben eine geringe Schulbildung und können sich damit nicht für eine Ausbildung in den Bildungszentren bewerben.

Insbesondere an diese Zielgruppe richtet sich der Ansatz des geplanten Holz-Ausbildungs- und Produktionszentrums in Man. Die Ausbildung in diesem Zentrum wird einen betrieblichen Teil, einen Praxisteil im Bildungszentrum sowie einen Theorieteil beinhalten. Sie wird somit vergleichbar sein mit der dualen Berufsausbildung in Deutschland.

Die ivorische Regierung möchte das Bildungszentrum mit geeigneten Maschinen ausstatten, sodass bis zu 32 Auszubildende hier ihren Platz haben werden. Gleichzeitig werden die regionalen Handwerksbetriebe unterstützt, indem diesen die Nutzung der Maschinen im Bildungszentrum ermöglicht wird, um qualitativ hochwertigere Produkte herzustellen.

Das durchschnittliche Lebensalter in der Côte d’Ivoire liegt bei 19 Jahren – der Druck, die jungen Menschen mit Ausbildungs- und später mit Arbeitsplätzen zu versorgen, ist gewaltig. Mit der Stärkung der dualen Berufsausbildung im Tischlerhandwerk wollen der WHKT und die CNMCI den Beweis antreten, dass gutes Grundlagenwissen und eine gute praktische handwerkliche Ausbildung überall auf der Welt zur Sicherung der eigenen Existenz beitragen.

Gastbeitrag: Zukunftsbildung ist fürs Handwerk entscheidend

Dieses Interview des renomierten Politikwissenschaftlers und Soziologen Prof. Dr. Dr. Dr. Roland Benedikter ist auf das Handwerk in Südtirol bezogen. Die Aussagen von Prof. Benedikter, einem Partner des WHKT in Südtirol lassen sich in vielerlei Hinsicht auf das deutsche Handwerk übertragen und sind genauso lesenswert wie anregend. 



“Zukunftsbildung ist fürs Handwerk entscheidend“.

Interview mit Roland Benedikter von Hannelore Schwabl

Eine der grossen Zukunftsfragen ist, wie sich die Berufe entwickeln. Die Technologie verändert derzeit vieles – auch im Handwerk. In Südtirol wird diese Frage im aktuellen Interreg-Projekt „FuturCRAFT“ des Landesverbands der Handwerker (LVH) erforscht, gefördert aus EU-Mitteln. Das Projekt fragt nach den Zukunftsberufen im Handwerk und richtet sich damit grenzübergreifend auch an ein breiteres deutschsprachiges Publikum. Es wird mit Partnern aus Südtirol, Salzburg und der italienischen Provinz Veneto in den Jahren 2019-21 durchgeführt – also mitten in der Corona-Krise. Mit dabei im Forschungsprojekt ist Globalisierungs- und Zukunfts-Experte Roland Benedikter. Er sieht das Handwerk durch die Krise bestätigt. Aber auch an Herausforderungen mangelt es nicht. Als die wichtigste sieht Benedikter angesichts vermehrter „Tiefenkrisen“, in die der deutschsprachige Raum voll involviert ist, die Zukunftsbildung.

 

Schwabl: Wie steht es um das Handwerk in Zeiten von Corona?

Benedikter: Das Handwerk hat sich als einer der stabilisierenden Faktoren erwiesen. Es ist verwurzelt, erhält regionale Wirtschaftskreisläufe am Leben und interagiert mit den Menschen vor Ort. Es ist hier und jetzt in Reichweite, wenn man es braucht. Das schafft Vertrauen. Wo globale und grenzüberschreitende Verbindungen abreissen, hält das Handwerk lokal zusammen.

 

Schwabl: Das hat mit Einbettung zu tun.

Benedikter: Ja, die Corona-Pandemie hat gezeigt, wie wichtig die Verankerung von Wirtschaftskreisläufen ist. Hier ist das Handwerk nach wie vor einer der wichtigsten Bausteine im deutschsprachigen Raum. Corona hat die Bedeutung des Handwerks als kapillarer Wirtschaftsfaktor in Zeiten zunehmender Tiefenkrisen deutlich gemacht – also von Krisen, die zeitweise das System ausser Kraft setzen oder sogar Grundlegendes in Frage stellen.

 

Schwabl: Sie arbeiten an der Forschungseinrichtung Eurac in Bozen an solchen Fragen – ja Ihr Zentrum wurde sogar dafür gegründet und arbeitet aktiv mit deutschen Einrichtungen zusammen?

Benedikter: Ja. Wir sind am Eurac Center for Advanced Studies mit den grossen Zukunftsfragen beschäftigt und was sie für Südtirol bedeuten. Wir versuchen die Südtiroler Zukunft im grösseren Zusammenhang und im Austausch mit dem deutschsprachigen Raum zu verstehen. Dazu bestehen enge Kontakte mit Deutschland. Eine gemeinsame Frage ist die Zukunft der Klein- und Mittelbetriebe. Die Corona-Krise hat gezeigt, dass zwei Faktoren dafür besonders wichtig sein werden: die Digitalisierung und die Zukunftsbildung.

 

Schwabl: Wo liegen die Stärken und die Schwächen, die Corona ja vielleicht nur nochmals verdeutlicht oder zugespitzt hat?

Benedikter: Wir stehen sehr gut da hinsichtlich Zusammenarbeit mit und Anerkennung in der Bevölkerung, Wertschöpfung und Arbeitsproduktivität, und auch was den Anteil des Wirtschaftsaufkommens im Gesamtbild betrifft. Das Handwerk ist zum Beispiel in Südtirol volkswirtschaftlich sogar wichtiger als der Tourismus, dessen Belastungen allmählich eine Grenze für die Bevölkerung erreichen. Die Schwächen liegen weniger in der Betriebsgrösse, die mit durchschnittlich unter 4 Mitarbeitern nicht nur (relativ) angreifbar ist, sondern im Gegenzug auch Krisen besser bewältigbar macht. Das hat also Vor- und Nachteile. Probleme liegen eher in der Geschlechterfrage mit zu wenigen Frauen und in der Investition in Forschung und Entwicklung. Während wir in Südtirol in allen anderen Belangen im europäischen Spitzenfeld liegen, sind wir in Forschung und Entwicklung unter den Schlusslichtern. Deutschland investiert pro Kopf 1200 Euro, der EU-Durchschnitt 600, Italien 380, Südtirol 290. Das passt nicht zusammen. Da müssen wir mehr tun – gerade wenn wir sehen, wie wichtig die Digitalisierung und andere technologische Innovationen gerade durch die Krise geworden sind.

 

Schwabl: Was brauchen wir jetzt?

Benedikter: Meiner Meinung nach dreierlei:

  1. Zukunftssicherheit mit Stützungen und Belastungsreduktionen, sowohl bürokratisch wie steuerlich;
  2. eine breitestmögliche Ausbildungsoffensive in neuen Technologien;
  3. eine systematische Auseinandersetzung mit Zukunftschancen in den Landesprogrammen. Wir müssen ein Programm für Zukunftsbildung im Handwerk lancieren, um zu verstehen, wo sich die Berufe hin entwickeln, und was dabei auf uns zukommt – worauf wir uns vorbereiten sollten. Das betrifft nicht nur die Zukunftsbereitschaft, die im Handwerk traditionell sehr hoch ist, sondern auch die Zukunftsbildung – wo wir noch nachlegen und verbessern können, damit gerade die Jungen in unseren Betrieben sich im Kopf auf das einstellen, was alles möglich ist.

Dabei sollten wir zwischen Zukunftsdenken und Zukunftsbildung unterscheiden, obwohl die beiden zusammenhängen.

 

Schwabl: Was meinen Sie mit Zukunftsdenken?

Benedikter: Zukunftsdenken meint nicht nur Planung, sondern Vorwegnahme von Situationen, Räumen, Zeiten. Wir nennen das „foresight“. Dazu muss ich viele Informationen kombinieren. Das findet heute 3-fach statt: mittels Datenprojektionsanalyse, „Horizonterkundung“ (horizon scanning) und Delphi-Studien, also durch interdisziplinäre Expertenbefragungen. Wir sollten alle drei verbinden – und dabei davon ausgehen, dass es nicht eine Zukunft gibt, sondern viele. Dazu gibt es übrigens auch ein leicht lesbares Büchlein in Gesprächsform, das man hier kostenlos erhalten kann.

 

Schwabl: Was genau ist mit Zukunftsbildung gemeint?

Benedikter: Das Thema ist: Wie verändern sich die Berufe im Handwerk? Da kommt im Kern die sogenannte „Futures Literacy“ ins Spiel. Futures Literacy, also wörtlich: „Zukünftebildung“, ist ein Ansatz der UNESCO, also der Bildungsorganisation der Vereinten Nationen. Bis 2020 stand er unter der Führung des Franko-Kanadiers Riel Miller. Es gibt inzwischen mehr als 30 Futures Literacy Laboratorien weltweit, wo Menschen aus verschiedenen angewandten Berufsgruppen sich treffen und eigene Erfahrungen mit den Voraussagen von Experten und globalen Vordenkern konfrontieren können. Es sind Laboratorien, die einen konkreten Mehrwert für die Beteiligten bringen, weil sie mitreden und ihre Anforderungen, Probleme und Ideen einbringen können. Wir wollen mit diesem Ansatz konkret arbeiten, um die „Zukunftsflexibilität im Kopf“ zu stärken und neue Ideen auszutauschen und umzusetzen. Das Handwerk könnte das zentral ins Bildungsprogramm aufnehmen – als Bindeglied zwischen lokalen Stärken und globalen Anforderungen.

 

Schwabl: Was ist jetzt zu tun?

Benedikter: Wir sollten Futures Literacy, Futures Literacy Laboratorien, Globalisierung und „Glokalisierung“, also die wechselseitigen Bezüge zwischen lokal und global, in der Berufsbildung für das Handwerk verankern. Um seine Zukunft zu sichern. Vielleicht sogar schon vorher in der Schule. Wir müssen dabei betreffend Innovation gar nicht überall die ersten sein – sogenannte prime movers –, sondern sollten eher auf early adapters hinzielen. Das heisst wir sollten unter den ersten sein, die Innovationen bedarfsbezogen, gewinnbringend und nachhaltig einführen. Dazu wurde zum Beispiel auch der NOI Technologiepark in Bozen eingerichtet.

 

Schwabl: Ihr Ausblick?

Benedikter: Zusammenfassend bildet das Handwerk ein Rückgrat der Wirtschaft. Es ist einer der konkret eingebettetsten Wirtschaftsbereiche, in vielerlei Hinsicht auch der kreislauforientierteste und damit der „glokal“ nachhaltigste. Das Handwerk ist und bleibt deshalb ein entscheidender strategischer Zukunftsfaktor. Zugleich kämpfen viele Betriebe mit Facharbeiter-Abwerbung und Versorgungs-Engpässen, aber auch mit den Pandemie-Auswirkungen. Wir sollten durchaus im Gemeininteresse alles tun, um sie zu stärken – zum Beispiel durch Entbürokratisierung und weitere Pandemie-Hilfen, wo sie notwendig sind. Im Moment schaut es ja nicht so aus, als ob diese Pandemie schon vorbei ist.


Roland Benedikter ist Co-Leiter des Centers for Advanced Studies der Eurac Bozen. Hannelore Schwabl arbeitet beim LVH Bozen.